Samstag, 26. September 2015

Carmen

Als ich letztens auf Digital Theatre schaute, ob sie auch Carmen im Repertoire haben, musste ich mit etwas Amusement an die Pressereaktionen im letzten Jahr auf die Carmen-Premiere in Münster denken. Sowohl die Autoren der Westfälischen Nachrichten als auch der Münsterschen Zeitung1 sprachen Verwirrung darüber aus, dass Sara Rossi Daldoss, die die Rolle der Micaëla spielt, mehr Applaus erhielt als die die Hauptrolle der Carmen spielende Tara Venditti. Es wurde spekuliert, es handle sich um einen Fehler in der Inszenierung ihrer Sterbeszene, der das zu verantworten habe. Ich versuche einen Lösungsvorschlag anzubieten.

Erstens handelt es sich bei Sara Rossi Daldoss um eine absolut bezaubernde Sängerin, welche einer eigentlich kleinen Rolle unglaublich viel Leben einhaucht. Diesen Fakt sollte man immer im Hinterkopf behalten, da er zeigt, dass das Publikum sehr klar Talent erkennt.
Zweitens, und viel wichtiger aus meiner Sicht, handelt es sich bei Carmen keinesfalls um eine sympathische Figur - ganz anders als Micaëla. Grundsätzlich behandelt diese französische Oper zwei Beziehungsdreiecke. Das erste umfasst Carmen und ihre beiden Männer, Don José und Escamillo. Das zweite stellt den Soldaten Don José zwischen die Zigeunerin Carmen und seine Jugendfreundin Micaëla.

Sowohl Inszenierung als auch die von mir gelesenen Kommentare legen den Fokus auf das erste Beziehungsdreieck und sehen hier das Konfliktpotenzial. Der moralisch gefestigte Betrachter sieht das mit etwas Skepsis. Auf der Suche nach "Liebe" wirft sie sich unter anderem diesen beiden Männern an den Hals, will bei allem aber auch ihre absolute Freiheit behalten. Wer Liebe als "Akt des Willens, das Gute für den Anderen zu wünschen" versteht, kann bei solch einer Konstellation nur den Kopf schütteln. So scheitert Carmen nicht am Gesellschaftskäfig, der für sie als Zigeunerin ohnehin nicht zutrifft, oder an den besitzergreifenden Männern2, sondern letztendlich an sich selbst und ihrer widersprüchlichen Ansicht.

Viel klassischer und berührender ist da schon das zweite Beziehungsdreieck. Don José ist in einem klassischen Dilemma gefangen: Entweder er entscheidet sich für die Verwegenheit und folgt der Leidenschaft (Carmen), oder er wählt die Sicherheit und, so denken es sich wohl viele Betrachter, das Glück (Micaëla). Hier sieht man eine Tragödie heranreifen und fiebert mit Micaëla mit, die essentiell um die Seele Don Josés kämpft. Man mische dazu das Talent von Sara Rossi Daldoss und die entsprechenden Klagearien werden zum Höhepunkt des Abends.

Aus dieser Sicht scheint es dann nicht mehr Carmen zu sein, die in eine tragische Situation gerät, sondern Don José; tatsächlich wird Carmen eher als Schuldige wahrgenommen. Erinnert man sich daran, scheint die hohe Sympathie für Micaëla nur allzu verständlich.

1 Ich würde gerne die Artikel verlinken, habe sie im Internet leider nicht mehr gefunden, sodass ich vollständig aus dem Gedächtnis schreiben muss.
2 Escamillo und Zuniga sehen tatsächlich in ihr nur ein Objekt der Wollust, allerdings ist es fraglich, ob Carmen darüber hinausgeht und es sollte auch beachtet werden, dass Don José nicht assertiv genug für Carmen ist.

Donnerstag, 24. September 2015

Star Wars on Trial

Wenn man älter wird, muss man mit Bedauern feststellen, dass vieles von dem, was in Jugendzeiten noch als brillante und präzise formulierte Werk wahrgenommen wurde, eigentlich größtenteils banale Aussagen ohne Tiefgang enthält. Dabei möchte ich nicht den Eindruck erwecken wollen, ihn fehle völlig die Qualität, aber die Perspektive verändert sich.
So auch mit "Star Wars on Trial".

Die Idee ist dabei eine gute, Science-Fiction-Autoren diskutieren darüber, ob der Einfluss der Star Wars - Reihe als positiv oder negativ für das Genre aufgenommen werden muss. Lange Zeit galt dieses Buch für mich als Referenz zum Thema Fantasy und Science Fiction, war sogar das Non plus ultra. Mittlerweile missfallen mir die naive Sicht von Geschichte1 , wie sie eigentlich alle Autoren aufweisen, und Religion, wobei diese eher Unwissen aufzeigt. Wenige Argumente weisen Kohärenz auf.

 Trotzdem möchte ich nicht verhehlen, dass mir Matthew Stover, Autor der Verteidigung, immer noch gefällt, einerseits da er die ganze Angelegenheit mit Humor nimmt und andererseits eine sympathische Argumentation2 aufbaut.

Den gesamten Inhalt zu kritisieren würde ein weiteres Durcharbeiten erfordern und lohnt der Sache eigentlich nicht. Ich musste mich schon davon abhalten, die Seiten mit Notizen über Notizen zu füllen, denn das hebe ich mir dann doch für die Großen Bücher auf. Allerdings ist ein Aspekt an Heuchelei überhaupt nicht zu überbieten. Einer der größten Vorwürfe gegenüber Star Wars ist, dass antidemokratische und elitäre Politik hier unterstützt wird, selbstverständlich durch die Jedi symbolisiert, deren Kraft auf Vererbung basiert. Ungern möchte ich auf diesen Punkt näher eingehen, man soll ihn nur im Kopf behalten. Jetzt komme ich darauf zurück, dass dieses Werk meine Sicht von Science Fiction für lange Zeit maßgeblich beeinflusst hat (dankbar bin ich zum Beispiel dafür, Isaac Asimov über dieses Buch gefunden zu haben). Das lässt aber offen: Wie unterscheidet David Brin, Autor der Anklage, Science Fiction und Fantasy?

Hier stürzt alles zusammen. Im Grunde wird alles für das Genre Science Fiction beschlagnahmt, was intelligent ist - oder als solches erkannt wird, sodass auch Tolkien sich nicht den verfehlten Angriffen von David Brin entziehen kann. Anders gesagt und zugespitzt: Science Fiction ist gute, Fantasy ist schlechte Literatur. Natürlich ist David Brin der Richter in diesen Sachen. Ich komme beim besten Willen nicht darum herum, darin etwas leicht elitäres zu sehen. Und Brin scheint auch kein Problem zu haben, diese Meinung öffentlich zu präsentieren.


1 Es handelt sich um das typische Klischee des dunklen Mittelalters und der alles verbessernden Renaissance und Aufklärung.
2 Völlig unzureichend verkürzt beharrt er darauf, dass es eben nicht die eine Möglichkeit gibt, diese Filme (und das Franchise) zu sehen, sondern mehrere. So ist die "Dunkle Seite", wie er die Anklage nennt, darauf angewiesen, den Leser von einer bestimmten Sichtweise zu überzeugen, während Stover lediglich auf die Anwesenheit von anderen Lesarten hinweisen muss.

Dienstag, 22. September 2015

Abbé Faria

In meiner Bibliothek in Rom besaß ich rund fünftausend Bände. Durch vieles Lesen und Wiederlesen habe ich herausgefunden, dass man mit hundertfünfzig gut gewählten Werken, wenn nicht den vollständigen Umfang der menschlichen Kenntnisse, so wenigstens all das hat, was ein Mensch wissen muss. Ich habe drei Jahre meines Lebens dem Lesen und Wiederlesen dieser hundertfünfzig Bühcer geweiht, so dass ich sie beinahe auswendig wusste, als ich verhaftet wurde. In meinem Gefängnis habe ich vermöge einer geringen Gedächtnisanstrengung mich völlig an sie erinnert. So könnte ich Ihnen Thukydides, Xenophon, Plutarch, Titus Livius, Tacitus, Straba, Jornandes, Dante, Montaigne, Shakespeare, Spinoza, Machiavelli und Bossuet rezitieren. Ich habe jetzt nur die wichtigsten aufgezählt.
Abbé Faria 

 Unweigerlich musste ich an dieser Stelle schmunzeln. Hat sich Mortimer J. Adler, wenn er von einer gebildeten Person redet, sich den Abbé Faria vorgestellt? Zumindest kommt es mir so vor, als seien die Konzepte nicht allzu weit von einander entfernt. In der Aufzählung kommen auf jeden Fall Autoren vor, die auch Adler sehr schätzte. Auf jeden wird der Abbé mir in Zukunft als Vorbild dienen, wenn ich wieder am Großen Leseprojekt arbeite (bei dem ich schändlich zurückhänge). Die Effekte beschreibt Dumas so, dass Farias Einfluss auf Edmond Dantès groß genug war, damit er seinem Vater das Leben, Faria aber seinen Verstand verdanke.

Die Ironie: Der Graf von Monte Christo mag ein Paradebeispiel des gebildeten Menschen im Sinne eine Mortimer J. Adler beinhalten, ist selbst meines Wissens aber nie auf die Liste der Großen Bücher gelangt.

Sonntag, 20. September 2015

Urlaub

Am Donnerstagabend kam ich zurück und nutzte die letzten Tage, um mich wieder an das "normale" Leben zu gewöhnen. Völlig ohne Reflektion möchte ich diese zwei Wochen nicht verstreichen lassen, weswegen ich in kurzen Worten die wichtigsten Eindrücke niederschreibe.Direkt nach der Sonntagsmesse ging es los und mir stand eine lange Fahrt bevor. Diese verlief glücklicherweise ohne weitere Komplikationen, sodass am Abend dem schönen Polen "Hallo!" gesagt werden konnte. Am Haus meiner Großmutter angekommen, betrat ich eine etwas andere Welt: Alles etwas langsamer, alles etwas kleiner, alles etwas volksfrömmiger: Kruzifixe, Mariendevotionalien und Papstbilder1 beherrschen die Optik der Wohnung. Diese Tatsache machte das Einleben erstaunlich einfach.

Das erste große Ereignis war der Besuch der schwarzen Madonna in Tschenstochau (Częstochowa). Das Marienheiligtum in Jasna Góra zu besuchen, stand schon seit einiger Zeit auf Liste von Dingen, die ich noch zu erledigen habe (oder wie in diesem Falle: Dinge, die ich schändlicherweise noch nicht getan habe.) Neben den offensichtlichen Möglichkeiten für kontemplatives Gebet, begeisterten mich auch der um den Berg angelegte Kreuzweg und die bildhaften Darstellungen der Geheimnisse des Rosenkranzes.

Daneben gab es als großes Ereignis, abgesehen von Besuchen bei Verwandten, welche wohl für mich wichtig sind, andere aber weniger interessieren, den Besuch des JuraParks. Der eine Teil erklärt den Beginn der Menschheit und der andere lässt den Besucher eine kleinere Entsprechung eines "Jurassic Park" im Sinne Spielbergs sehen. Natürlich handelt es sich bei den Dinosauriern nur um Figuren, jedoch kann ich bei der Anlegung des Parks aufgrund der Einhaltung einzelner Prinzipien nur Lob aussprechen.

Wieder einmal war der Sonntag ein Reisetag, wobei es dieses Mal darum ging, nach Beuten (Bytom) zu fahren, um den anderen Teil der Verwandtschaft zu besuchen. Einem gemütlichen Grillen folgte ein Besuch einer öffentlichen Veranstaltung, auf der die Kabarettgruppe Młodych Panów auftrat. Diese wird deutschen Lesern wohl nicht viel sagen, wer aber ein wenig Schlesisch, einem Dialekt des Polnischen, versteht, hat mit der Gruppe sicher seinen Spaß.

Mein Cousin hatte noch eine kleine Idee. Am Flughafen von Kattowitz (Catowice) gibt es eine Stelle, über der direkt die ankommenden Flugzeuge fliegen. Damit durfte der Abend (in den nächsten Morgen überlappend) ausklingen. Es hat schon etwas an sich, wie aus einem einfachen, sich bewegenden Licht, langsam eine Motte und dann das Flugzeug wird, welches den faszinierten Betrachter in seinem Wind stehen lässt.

Beuten gab auch die Möglichkeit, die Reiseziele Wadowice und Krakau einfacher zu erreichen. Wadowice war als Geburtort von Karol Wojtyła für mich eigentlich vorgegeben. Sein Geburtshaus wurde in ein schönes Museum umgewandelt, sodass ich auch hier viel lernen konnte - und mich bei den angebotenen Büchern etwas zurückhalten musste. Am interessantesten war für mich eine Tatsache. An einer Seite der Kirche in Wadowice steht ein wundervolle Sinnspruch auf der Sonnenuhr: Czas ucieka, wieczność czeka (Zeit flieht, Ewigkeit wartet). Von Karols Arbeitszimmer hatte er diesen Satz stets im Blick und konnte über seine Bedeutung sinnieren.

Krakau am Montag zu besuchen war alles andere als geschickt, da dies der Ruhetag für die meisten Attraktionen auf dem Wawel ist. So wurde der restliche Tag eher mit Besichtigen der Stadt und dem Ankauf von Souvenirs verbracht. Unter anderem befindet sich darunter ein Buch mit sämtlichen Legenden aus der Stadt.

An Ereignissen lässt sich eigentlich nichts mehr zusammentragen. Es wurde noch eine Silbermine besucht, noch einige Verwandte besucht, jedoch konnte der Urlaub im Großen und Ganzen so ausklingen, wie er begann: ruhig. Mein literarischer Begleiter war Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas und die letzten Tagen die Einführung in das Christentum von Joseph Ratzinger.


Natürlich von "unserem" Papst, Johannes Paul II.

Sonntag, 6. September 2015

Kleine Ankündigung

Leider war es für mich schon vorher absehbar, aber es lässt sich nicht abwenden. Die nächsten zwei Wochen wird es wohl auf diesem Blog etwas ruhiger aussehen, denn ich verabschiede mich für einen kleinen Urlaub nach Polen. Ob ich dort blogge oder nicht, kann ich theoretisch nicht sagen, allerdings möchte ich nichts kategorisch ausschließen. Dummerweise war ich bereits die letzten zwei Wochen auf einer Freizeit unterwegs (wenn ich selbst nichts mehr schreibe, gibt es hier dazu etwas unter den Überschriften "Jugendfreizeit 2015" nachzulesen), sodass ich für diesen Zeitraum keinen Vorrat aufbauen konnte. Das führt zwar zu einem Haufen Entwürfe ohne fertiggstellte Werke präsentieren zu können. Sei's wie sei, da muss man durch. In zwei Wochen wird auch wieder regelmäßig gebloggt, versprochen.
Der dumme Fuchs

Samstag, 5. September 2015

ARD und Menschenrechte

Die Realität kann sich niemals ändern ohne ein spirituelles Konzept des Individuums. Und dazu [...] muss man einen jeden Menschen zu der Erkenntnis seiner Würde führen. Viele von den toten Frauen wären noch am Leben, wenn man ihre Würde respektiert hätte.1

 Manchmal trifft man auf Texte, die man gerne nicht gesehen hätte: HIER

Ob es bei der Abtreibung zum Töten kommt? Unwichtig.
Die Abtreibung löst sämtliche Probleme? Sicherlich.

Ich stelle dem Text mal ein Zitat gegenüber:

"For man, the right to life is the fundamental right. And yet, a part of contemporary culture has wanted to deny that right, turning it into an 'uncomfortable' right, one that has to be defended. But there is no other right that so closely affects the very existence of the human person! The right to life means the right to be born and then continue to live until one's natural end: 'As long as I live, I have the right to life.'

The question of conceived and unborn children is a particularly delicate yet clear problem. The legalization of the termination of the pregnancy is none other than the authorization given to an adult, with the approval of an established law, to take the lives of children yet unborn and thus incapable of defending themselves.[...]

Often the question ist presented as a women's right to free choice regarding the life already existing inside her, that she carries in her womb: the woman should have the right to choose between giving life or taking it away from the unborn child. Anyone can see that the alternative here is only apparent. It is not possible to speak of the right to choose when a clear moral evil is involved, when what is at stake is the commandment Do not kill!

[...]

It is necessary to recognize that, in this context, we are witnessing true human  tragedies. Often the woman  is the victim of male selfishness, in the sense that the man, who has contributed to the conception of the new life, does not want to be burdened with it and leaves the responsibility to the woman, as if it were 'her fault' alone. So, precisely when the woman most needs the man's support, he proves to be a cynical egotist, capable of exploiting her affection or weakness, yet stubbornly resitant to any sense of responsibility for his own action. These are problems that are well known not only in confessionals, but also in courts throughout the world and, more and more these days, in courts that deal with minors.

Therefore, in rejecting 'pro choice' it is necessary to become courageously 'pro woman,' promoting a choice that is truly in favor of women. It is precisely the woman, in fact, who pays the highest price, not only for her motherhood, but even more for its destruction, for the suppression of the life of the child who has been conceived. The only hones stance, in these cases, is that of radical solidarity with the woman. It is not right to leave her alone. The experiences of many counseling centers show that the woman does not want to suppress the life of the child she carries within her. If she is supported in this attitude, and if at the same time she is freed from the intimidation of those around her, then she is even capable of heroism. As I have said, numerous counseling centers are witness tho this, as are, in a special way, houses for teenage mothers. It seems, therefore, that society is beginning to develop a more mature attitude in this regard, even if there are still many self-styled 'benefactors' who claim to 'help' women by liberating them from the prospect of motherhood."2

1 Karol Wojtyła im Film Karol - Papst und Mensch
2 Pope John Paul II, Crossing the Threshold of Hope, p. 204-207

Donnerstag, 3. September 2015

Kurzkritik: Anansi Boys - Neil Gaiman

Einen Roman von Neil Gaiman zu lesen ist im Grunde immer eine faszinierende Angelegenheit. In meinem Falle bleibt allerdings stets ein Gefühl der Unzulänglichkeit zurück. In vielen Aspekten ist es völlig unmöglich dem Briten auch nur im Geringsten einen Vorwurf zu machen. Bei diesem Werk ist das die Eskalation zu Beginn. Nicht nur für die vernünftige Einleitung, die heutzutage zu gerne für einen rasanten Einstieg aufgegeben wird, war ich dankbar, auch die weitere Entwicklung bis zum handlungstragenden Element, der den Plot startende Akt, wenn man so will, entzückt geradezu. In dieser Hinsicht lassen sich schnell Parallelen zu „American Gods“ ziehen, der ebenso im Anfang völlig überzeugte.
Dann geht es aber darum diesen Konflikt wieder aufzulösen. In gewisser Hinsicht kann ich Gaiman nicht mal hier kritisieren. Anders als manch andere Autoren, zum Beispiel sei nur Stephen King genannt, macht er sich sichtlich Gedanken, wo er mit seiner Geschichte hin will. Jedoch möchte er so zielstrebig dort hin, dass man ein wenig die Atmosphäre vermisst. Mir schien es, als habe man den Mittelteil übersprungen und sei sofort bei der Lösung des Rätsel angelangt. Als hätte Poirot keine Menschenseele befragen müssen, da er direkt sein Resultat vorstellen kann.
Weiterhin geht aus meiner Sicht ein weiterer Aspekt unter. Anansi soll der Gott der Schwindler sein, der „trickster god“. Man wünscht sich, viel mehr davon zu sehen. Der Leser bekommt zwar verschiedene Lichtblicke darauf, darf es aber nicht in voller Pracht genießen. Gerade für die Lösung des Dilemmas hätte man sich mehr davon gewünscht.

Dabei liest sich das jetzt wohl viel negativer, als gemeint ist, nur gemeint sein kann. Schließlich ist meine Beschwerde darauf ausgelegt, mehr zu verlangen. Prinzipiell ist das kein allzu schlechtes Zeichen und lässt zumindest Gaiman als Schreiber an sich im guten Lichte dastehen. Insgesamt wird man auch seinen kurzweiligen Spaß mit dem Roman haben. Bei Gaiman bin ich mir aber jedes Mal aufs Neue bewusst, dass ich eben nicht jemanden lese, der nur gut ist, sondern jemanden mit dem Potenzial zu einem absolut genialen Werk. Dieses Potenzial so häufig ungenutzt zu sehen, schmerzt mich einfach.

Dienstag, 1. September 2015

Die Affen und Hamlet

Stellen Sie sich einen Affen vor. Und eine Schreibmaschine oder - die Zeiten ändern sich - eine Tastatur. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Affe sich hinter die Tastatur klemmt und ein literarisches Meisterwerk produziert [...]? Natürlich unendlich klein. [...] Gäbe es allerdings tatsächlich eine unendliche Anzahl von Affen [...], könnte man tatsächlich davon ausgehen, dass jedes Buch, ob nun Meisterwerk oder nicht, irgendwann einmal von einem Affen geschrieben werden würde. [...] Der springende Punkt ist natürlich die Unendlichkeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Affe es schafft, beispielsweise Hamlet zu schreiben, ist vernachlässigbar gering. Genauer gesagt liegt sie bei 1:3,4183946 (es hat sich wirklich einmal jemand die Mühe gemacht, das auszurechnen). Wenn sich nun eine unendliche Anzahl Affen an einer Tastatur austobt, muss man diese Minimalchance mit unendlich multiplizieren, und dann wird die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Affen es je schafft, das Werk Shakespeares herunterzutippen, auf einmal tatsächlich reell.[...] Will man die Wahrscheinlichkeit von etwas einschätzen, muss man folglich die genaue Anzahl der Affen kennen und mit einberechnen.1

Dass die Rationalität der Welt sinnvoll nicht aus der Irrationalität erklärt werden kann, ist evident.2

 Das von Ruben Mersch dargestellte Gedankenexperiment gehört zu einem der interessanteren dieser Gattung. Dabei ist es geradezu eklatant, wie der moderne Mensch nur völlig technisch an die Fragestellung herangehen kann. Klar vor seinen Augen sieht er die Wahrscheinlichkeit des Ausgangssachverhalts, sodass er zweifelsohne zu dem Ergebnis kommen muss, es sei nicht möglich. Was ihm dabei entgeht, ist freilich kein unbedeutender Fakt: Die geringe Wahrscheinlichkeit gilt eben nicht nur für "Hamlet", sondern für jede x-beliebige Aneinanderreihung von Zeichen, insofern es sich um dieselbe Anzahl derselben handelt. In anderen Worten: Ob ich nun "Hamlet" schreibe oder "Ltmeah" macht aus der Sicht des Zufalls nicht den geringsten Unterschied. Was bringt uns dann also dazu, solche Gedankenexperimente in Erwägung zu ziehen? Der Zufall kann es, wie soeben dargestellt, nicht sein.
So muss man, auch wenn es dem ein oder anderen missfällt, die teleologische Ebene miteinbeziehen. Erst ich als Mensch, damit als Beherrscher einer syntaktischen Sprache, gebe beispielsweise den Worten "To be or not to be" eine Bedeutung. Nicht die Unwahrscheinlichkeit der Aneinanderreihung lässt mich Shakespeare als Genie loben. Es ist der Sinn dieser Worte, der sich, so leid mir das auch tut, nicht der rein faktischen Betrachtung erschließt. Eine niedrigere Ebene erschließt mir vielleicht eine gewisse Tatsache, jedoch handelt es sich bei dieser Beobachtung keineswegs um das konstituierende Moment. Schließlich preisen wir Shakespeare nicht dafür, dass es ihm zufälligerweise gelungen ist, hunderte Zeichen in einer gewissen Reihenfolge zu Papier zu bringen, sondern für seine Lyrik und Einsicht in die menschliche Psyche.



1 Ruben Mersch, Warum wir alle Idioten sind S.120f
2 Joseph Ratzinger, Auf Christus schauen S.30