Sonntag, 27. März 2016

Zitat am Sonntag

What in the twentieth century perhaps comes closest to the working-class revolution were the events in Poland of 1980-81: the revolutionary movement of industrial workers (very strongly supported by the intelligentsia) against the exploiters, i.e., the state. ANd this solitary example of a working-class revolution (if indeed it may be counted as such) was directed against a socialist state, and carried out under the sign of the cross with the blessing of the Pope.[...]
As for the so-called materialist interpretation of history, it has provide us with a number of interesting insights and suggestions, but it has no explanatory value. In its strong, rigid version, for which there is considerable support in many classic texts, it implies that social development depends entirely on the class struggle, which ultimately, through the intermediary of changing 'modes of production,' is determined by the technological level of the society in question. It implies, moreover, that law, religion, philosophy and other elements of culture have no history of their own, since their history is the history of the realtions of production. This is an absurd claim, completely lacking in historical grounds.
If, on the other hand, the theory is taken in a weak, limited sense, it merely says that the history of social struggles and conflicting interests, and that political institutions depend in part, at least negatively, on technological development and on social conflicts. This, however, is an uncontroversial  platitude which was known long before Marx. THus the materialist interpretation of history is either nonsens or a platitude.
Leszek Kołakowski, What is Left of Socialism, zitiert aus Kołakowski, Is God Happy?, S.65ff

Sonntag, 20. März 2016

Zitat am Sonntag

Seit der Enzyklika "Pascendi dominici gregis" von 1907, die dem "Modernismus" den Kampf angesagt hatte - "De falsis doctrinis modernistarum" -, waren "Modernismus" und Antimodernismus" zu Feldstandarten einer Geisterschlacht nicht nur im Katholizismus geworden. Den Antimodernisten ging es nicht einfach darum, die kirchlichen Dogmen(z.B. die "Unbefleckte Empfängnis") und die Prinzipien der klerikalen Hierarchie (z.B. die Unfehlbarkeit des Papstes) zu verteidigen. So haben es ihre Gegner gerne dargestellt und deshalb im Antimodernismus nichts anderes gesehen als eine gefährliche oder gar lächerliche Verschwörung von Dunkelmännern gegen den wissenschaftlichen Geist der Zeit, gegen Aufklärung, Humanismus und Fortschrittsideen jeglicher Art.
Doch daß man Antimodernist sein konnte, ohne zum Obskuranten werden zu müssen, zeigt das Beispiel Carl Braig - ein scharfsinniger Kopf, der die unreflektierten Glaubensvoraussetzungen in den verschiedenen Spielarten der modernen Wissenschaftlichkeit aufdeckte; was sich glaubenslos und voraussetzungslos dünkte, das wollte er aus seinem "dogmatischen Schlummer" aufwecken. Die sogenannten Agnostiker, sagte er, haben auch einen Glauben, allerdings einen besonders primitiven und hausbackenen: den Glauben an den Fortschritt, an die Wissenschaft, an die biologische Evolution, die es angeblich so gut mit uns meint, an ökonomische und historische Gesetze... Der Modernismus sei, so Braig, "geblendet für alle, was nicht sein Selbst ist oder nicht seinem Selbst dient", die Autonomie des Subjektes sei zu einem selbstgezimmerten Gefängnis geworden. Braig kritisiert an der modernen Zivilisation die mangelnde Ehrfurcht vor dem unausschöpflichen Geheimnis einer Wikrlichkeit, deren Teil wir sind und die uns umgreift. Wenn der Mensch sich anmaßend in den Mittelpunkt stellt, so bleibt ihm am Ende nur noch ein pragmatisches Verhältnis zur Wahrheit: 'Wahr' ist, was uns nützt und womit wir praktischen Erfolg haben. Dagegen nun Braig: "Die geschichtliche Wahrheit, wie alle Wahrheit - am siegreichsten leuchtet hier die mathematische Wahrheit auf, die strengste Form der weigen Wahrheit - ist vor dem subjektiven Ich und ohne dasselbe... So wie das Ich der Vernunft die Vernünftigkeit der Dinge insgesamt ansieht, so sind sie nicht in der Wahrheit... und kein Kant ... wird das Gesetz abändern, das dem Menschen gebietet, sich nach den Dingen zu richten."

Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland - Heidegger und seine Zeit, S30f

Montag, 14. März 2016

Ethik2go

Lang ist's her, dass ich zum letzten Mal - abgesehen von den Zitaten am Sonntag - auf diesem Blog etwas veröffentlichte. Im Grunde blieb es anderthalb Monate still auf diesem Blog, was natürlich nicht sein darf. Verschiedenstes hat mich abgehalten, aber jetzt möchte ich doch wieder regelmäßig schreiben. So folgt jetzt auch keine Rezension, wovon nicht wenige noch ausstehen, sondern ein Kommentar, der mir schon etwas länger auf den Fingernägeln brennt.

Ungefähr Ende Januar stieß ich das erste Mal auf eine neue Serie von katholisch.de mit dem Namen Ethik2go. Natürlich tut es mir Leid, dass mein erster Post nach langer Funkstille ein kritischer sein muss, aber ich kann es auch nicht ändern.1 Die grundsätzliche Idee ist dabei gar nicht einmal schlecht. In den kurzen Videos - zwei bis vier Minuten - werden ethische Fragen behandelt. Doch stellte ich mir gleich zu Beginn einige Fragen. Erstens: Warum wird ein Philosophieprofessor hinzugezogen und kein, wie es sich bei einer katholischen Internetseite schließlich anbieten würde, Moraltheologe? Das ist nicht zwingend ein Argument gegen die Qualität der Serie, ich habe mich lediglich über diesen Fakt gewundert.

Viel bedeutender scheint mir die hauptsächliche Schwäche der Idee zu sein: Es werden in ihr konkrete Fragen behandelt. Dem ein oder anderen mag das schlüssig erscheinen, jedoch ergeben sich daraus verschiedene Probleme. Um eine gute Ethik präsentieren zu können, benötige ich entsprechend gute Grundlagen. Erst dann kann man zu nachvollziehbaren und auch nützlichen Schlussfolgerungen gelangen. Daran krankt beispielsweise ja auch der Utilitarismus, da er zwar für einige Dilemmata Handlungsfäden anbietet, letztendlich aber keine begründende Grundlage dafür bietet. Gerade bei einem Philosophieprofessor ist man auch erst einmal versucht zu fragen: Welchem Philosophen folgen Sie? Ob diese Personen nun eher Kant oder Aristoteles in ihrer Ethik zitieren wirkt sich merklich auf ihre Argumentation aus.

So ergeben sich schnell zwei Schwächen des "to go"-Prinzips: Anstatt dem Zuschauer Prinzipien an die Hand zu geben, mit denen er sich selbst zu mannigfaltigen Themen Einstellungen bilden kann, macht man ihn davon abhängig, die teilweise recht ambivalenten Aussagen des Professors für bare Münze zu nehmen. Weiterhin werden komplexe Themen, wie zum Beispiel das der Organspende, in absurd kurzer Zeit abgearbeitet werden, sodass man maximal ein kurzen Einblick in ein Thema bekommt, worin man sich weiter einlesen müsste - konkrete Hilfe ist das dann aber widerrum nicht.

Damit entstehen dann auch Phrasen, die aus meiner Sicht nicht genügend begründet werden, oder auch Sätze, deren Inhalt, wie im aktuellen Beitrag zu Organspende, man eher mit einem Kopfschütteln begegnet. Auch erinnere ich mich an ein Video aus dem Januar - es kann sein, dass die Videos nur eine entsprechend kurze Zeit gespeichert werden, zumindest fand ich das entsprechende Video nicht mehr -, in dem er unterschiedliche philosophische Traditionen danach unterschied, ob sie ihre Ethik auf Vernunft oder Emotion basieren. Dies bleibt als abstrakte Aussage stehen, sodass dem Zuschauer nicht einmal die Möglichkeit gegeben wird, sich weiter über diese Richtungen zu informieren. Vielmehr ist mir dabei aufgefallen - ich sage direkt im Voraus, dass ich ein Laie in diesem Gebiet und dem Irrtum damit auch schnell ergeben bin -, dass in meiner Erfahrung eigentlich keine philosophische Tradition existiert, die tatsächlich die Vernunft für die Emotion aufgegeben hätte. Ich kenne diese Dichotomie zwar - von den verschiedenen Strömungen der (deutschen) Literatur: die Aufklärung betonte die Vernunft, der Sturm und Drang die Emotionen, die Klassik wieder die Vernunft, die Romantiker wieder die Emotionen (stark vereinfacht, wohl gemerkt). Wo sich das jetzt genau in der Philosophie wiederspiegelt, wäre mir schleierhaft.


1Anstatt ständig Entschuldigungen anzubieten, sollte ich wohl einfach mal zum  Text kommen, oder?

Sonntag, 13. März 2016

Zitat am Sonntag

Gerne dien ich den Freunden,
doch tue ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.
Friedrich von Schiller über die Moralphilosophie Kants

Sonntag, 6. März 2016

Zitat am Sonntag

Aber wie eigenartig: Das Bewusstsein, das vorn der Freiheit eine Gasse bahnen will, betreibt hintenherum eine Art Freiheitsberaubung im großen Stil. Das Bewusstsein, das Freiheit will, scheint so genau wie nie zuvor darüber Bescheid zu wissen, von welchen gesellschaftlichen oder natürlichen Bestimmungsgründen das vermeintlich freie, spontane Handeln umzingelt ist. Das ist Modernität: Freiheitsverlangen und zugleich das Wissen um ein notwendiges Sein, wie es die Wissenschaften uns vorhalten; eine eigenartige Melange aus naiver Spontaneität und illusionslosem Zynismus. Die Zangenbewegung von Soziologie und Psychoanalyse beispielsweise lässt eigentlich keinen Raum mehr für Freiheit, in der Selbstinterpretation erscheinen wir als ökonomische Charaktermaske , als soziale Rolle und als Triebnatur - eine unaufhörliche Blamage für jedes Freiheitsbewusstsein. Trotzdem bleibt das Freiheitsverlangern lebendig, gerade auch bei denen, die sich gut darauf verstehen, ihre Spontaneität soziologisch und psychoanalytisch zu "hinterfragen". Vielleicht hängt das damit zusammen , dass das Freiheitsverlagnen den Mut und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, übersteigt. Man will die Freiheit, alles mögliche zu tun, frei Bahn für die Bedürfnisbefriedigung, aber wenn es schlecht läuft, wenn es gilt, Folgelasten zu tragen, dann hat die diskursive Freiheitsberaubung ihre große Stunde: Man kann erklären , dass es so hat kommen müssen, und ist die Verantwortung los. Die entwickelte Kultur des Erklären-Könnens operiert in einer bedenklichen Grauzone: Die Übergänge vom Erklären zum Entschuldigen sind fließend. Man kann das nachträgliche Erklären-Können sogar schon an den Beginn einer Handlung setzen im Sinne einer präventiven Absolution für den schlechten Fall. Man antizipiert ihn und bereitet sich schon darauf vor, "es nicht gewesen zu sein".
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, S. 456f