Mittwoch, 4. November 2015

Harry Potter und der Stein der Weisen - J.K. Rowling

Harry, du bist ein Zauberer.1
 Jetzt ist es schon fast zwei Jahrzehnte her, dass "Harry Potter und der Stein der Weisen", Teil 1 dieser bekannten und erfolgreichen Reihe, auf dem Buchmarkt erschien. Letztlich handelt es sich beim gigantischen Erfolg dieser Bücher um ein Phänomen, welches nie zur Gänze erklärt werden kann. Jeder Versuch einer Erklärung ist notwendigerweise eine Simplifikation. Sicherlich gehörte ein gewisses Timing zum Erfolg der Bücher, jedoch wäre es höchst zweifelhaft, nur daran ihre Beliebtheit auszumachen. Bücher sind nicht einfach nur irgendeine Ware, deren Gewinn sich zur richtigen Zeit erwirtschaften lässt, dahinter steht stets eine etwas größere Vision, welche im diesen Fall abertausende Leser fesseln und begeistern konnte. Deswegen will und kann ich in dieser Hinsicht gar nichts anbieten. Allerdings ist es mir möglich, meine eigenen Erfahrungen mit diesen Werken zu vermitteln, vor allem nachdem ich erst vor Kurzem die gesamte Hörbuchedition spottbillig erstehen konnte - zumindest im Vergleich zum Preis der damaligen CD-Version.

"Harry Potter" ist die Geschichte des gleichnamigen, völlig normalen Jungen, der an seinem elften Geburtstag einerseits erfährt, er sei ein Zauberer, und andererseits eine absolute Berühmtheit in der Zaubererwelt darstelle, denn er habe den bösen Zauberer Lord Voldemort zu Fall gebracht - wobei sich keiner so genau erklären kann, wie er das zustande gebracht hat.

Die Autorin erwähnt gerne, sie habe die Reihe so angelegt, dass der Leser zusammen mit den Figuren wachse. Nachdem ich die Bücher zum x-ten Mal wieder einmal gehört habe, ist mir dabei etwas interessantes aufgefallen. Stilistisch ist diese Aussage völlig korrekt. Die Art und Weise, wie Konflikte und Themen angegangen werden, war definitiv einem Reifungsprozess unterworfen. Jedoch ist es faszinierend, dass die grundlegenden Themen - Umgang mit Tod und Macht - bereits im ersten Band mit voller Wirksamkeit entfaltet werden. Schon im Umgang mit dem Stein der Weisen scheiden sich die Geister an diesen Themen, wird die Linie zwischen Gut und Böse dadurch gezogen: Während Quirrell, angeleitet von Lord Voldemort, die Welt in "Macht und jene, die zu schwach sind, um nach ihr zu streben"2, aufteilt, stellt Dumbledore als ideologischer Gegenpunkt die Liebe über alles3. Ebenso ist es Voldemort, der den Stein benutzen will, um "ewiges" Leben zu erlangen, während laut Dumbledore "der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste Abenteuer ist"4. Dabei schafft es Rowling tiefstes Verlangen mit diesen beiden Aspekten in der Gestalt des Spiegels Nerhegeb5 zu verbinden, welcher dadurch zu einem meiner liebsten magischen Artefakte wurde, der sich zurecht neben dem Teufelsspiegel aus Andersens Die Schneekönigin stellen lassen kann.  Neben anderen Dingen scheint mir vor allem das der Kern zu sein, welcher eine faszinierende Reife der Bücher suggerierte.

Weiterhin schätze ich Rowling vor allem in stilistischer Hinsicht. Neben dem detaillierten Universum, welches sie aufbaut, scheinen gerade die Nebenfiguren immer mit erstaunlich viel Leben gefüllt zu sein. Andere Autoren scheitern schon daran, ihrer Hauptfigur eine Persönlichkeit zu geben, während Rowling es schafft, eine ganze Klasse vor den Augen des Lesers erstehen zu lassen. Das hängt für mich auch mit den präzise gewählten Namen zusammen, die schon beinahe in Tolkienscher Manier auf die Figur selbst schließen lassen. So stört es auch nicht, wenn die Autorin viele Aspekte ihrer erdachten Welt aus anderen Werken und vor allem der klassischen Mythologie entnommen hat, da ihre Welt auf einer ganz anderen Ebene, der menschlichen, definitiv lebendig wirkt.

Wer Fehler finden will, findet sie leider auch am ehesten in diesem Band. Typischerweise für den Beginn einer Reihe, krankt Stein der Weisen an den Fehlern einer Einleitungsgeschichte. Mehr noch als in allen anderen Bücher muss vieles eingeführt werden, damit die Geschichte später wirklich losgehen kann; einiges davon bearbeitet dazu auch noch die Muggelwelt, also die nicht-magische, wodurch noch mehr der Eindruck einer gewissen Langatmigkeit entstehen kann. Der Stil ist noch etwas naiver, sodass Langleser schnell die ein oder andere Diskrepanz entdecken.6 Letzten Endes soll das aber keineswegs von der Qualität und den starken Aspekten des Romans ablenken und keinerlei Problem macht das Buch wirklich kaputt.

Höchstens eines könnte ich nennen, welches mir schon als sehr junger Leser beziehungsweise Hörer missfallen ist. Harry, Hermine, Draco und Neville erhalten eine Strafarbeit, die darin besteht, mit Hagrid den Verbotenen Wald nach einem verletzten Einhorn abzusuchen. Sie finden es und dazu noch eine Gestalt, die das Blut des Tierwesens trinkt. Nachdem der Zentaur Firenze Harry vor der Gestalt rettet, möchte er ihm die Implikationen klar machen. Wer ein so reines Tier wie das Einhorn tötet und dessen Blut trinkt, wird am Leben bleiben, führt jedoch fortan ein verfluchtes Leben. Weder hier noch im weiteren Verlauf der Reihe, obwohl selbst einige abwegigere Fragen beantwortet wurden7, erhalten wir eine Antwort, es wird nicht einmal mehr weiter erwähnt. Ich habe immer noch das Gefühl, dass ursprünglich etwas etabliert wurde, was Rowling verwerfen musste oder selbst verworfen hat, für den Leser bleibt leider nur noch diese Leerstelle.

So bleiben noch zwei weitere Medien zu besprechen. Die Hörbücher mit Rufus Beck sind mittlerweile legendär und man kommt nicht umhin, eigentlich sämtliche anderen Hörbücher auf dem Regal an diesem zu messen. Jede Figur erhält ihre eigene Stimme - das ist kein einfacher Werbespruch, der Verlag wurde davon dazu inspiriert, ein Quiz zu veranstalten: aus den verschiedenen Hörbüchern wurde Sätze genommen und man musste denen die entsprechenden Figuren zuordnen - und es war machbar. Wer also mehr als nur das monoton vorgelesene Hörbuch haben möchte, sondern ein Hörspiel ohne Effekte, der ist mit Rufus Beck gut beraten, den man, ich spreche aus Erfahrung, auch ganze zehn Stunden am Stück hören kann.

Kommen wir zur Verfilmung mit Chris Columbus als Regisseur. Auch hier mag man inhaltlich sagen, was man möchte. Insgesamt ergibt sich für mich ein stimmiges Bild mit einem beachtlichen Schauspielensemble und einem unbestreitbaren Charme, der es sogar schafft, irgendwie diese Naivität passend auf die Leinwand zu bringen. Die Atmosphäre war in den ersten vier Teilen noch unverkennbar und verrät nicht zuletzt durch die Musik und die Sets stets einen Potter-Film.

Alles in allem darf man sich also ruhigem Gewissens dem ersten Band der Harry Potter - Reihe nähern. Ein starker emotionaler und tiefsinniger Kern ist hierbei von einer fein ausgearbeiteten Welt umgeben, sodass eigentlich jeder Leser auf seine Kosten kommen sollte.



1J.K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen S.58
2ebd., S.316
3ebd., S.324
4ebd., S.323
5Ich habe übrigens verboten lange gebraucht, um auf die Herkunft dieses Namens zu kommen.
6Mein Liebling wird wohl die Szene sein, in der Snape Harry einen - einen! - Punkt abzieht, und es als riesiges Problem gesehen wird. In späteren Romanen wäre Harry froh sein, würde es sich nur um einen Punkt handeln. Das ist aber auch eher eine Situation zum Schmunzeln.
7Zum Beispiel: "Warum ist der Blutige Baron so blutig?", eine Frage, deren Beantwortung ich nicht für möglich gehalten hätte.

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