Sonntag, 6. März 2016

Zitat am Sonntag

Aber wie eigenartig: Das Bewusstsein, das vorn der Freiheit eine Gasse bahnen will, betreibt hintenherum eine Art Freiheitsberaubung im großen Stil. Das Bewusstsein, das Freiheit will, scheint so genau wie nie zuvor darüber Bescheid zu wissen, von welchen gesellschaftlichen oder natürlichen Bestimmungsgründen das vermeintlich freie, spontane Handeln umzingelt ist. Das ist Modernität: Freiheitsverlangen und zugleich das Wissen um ein notwendiges Sein, wie es die Wissenschaften uns vorhalten; eine eigenartige Melange aus naiver Spontaneität und illusionslosem Zynismus. Die Zangenbewegung von Soziologie und Psychoanalyse beispielsweise lässt eigentlich keinen Raum mehr für Freiheit, in der Selbstinterpretation erscheinen wir als ökonomische Charaktermaske , als soziale Rolle und als Triebnatur - eine unaufhörliche Blamage für jedes Freiheitsbewusstsein. Trotzdem bleibt das Freiheitsverlangern lebendig, gerade auch bei denen, die sich gut darauf verstehen, ihre Spontaneität soziologisch und psychoanalytisch zu "hinterfragen". Vielleicht hängt das damit zusammen , dass das Freiheitsverlagnen den Mut und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, übersteigt. Man will die Freiheit, alles mögliche zu tun, frei Bahn für die Bedürfnisbefriedigung, aber wenn es schlecht läuft, wenn es gilt, Folgelasten zu tragen, dann hat die diskursive Freiheitsberaubung ihre große Stunde: Man kann erklären , dass es so hat kommen müssen, und ist die Verantwortung los. Die entwickelte Kultur des Erklären-Könnens operiert in einer bedenklichen Grauzone: Die Übergänge vom Erklären zum Entschuldigen sind fließend. Man kann das nachträgliche Erklären-Können sogar schon an den Beginn einer Handlung setzen im Sinne einer präventiven Absolution für den schlechten Fall. Man antizipiert ihn und bereitet sich schon darauf vor, "es nicht gewesen zu sein".
Rüdiger Safranski, Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie, S. 456f

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen